Noch kurz bevor die Taliban die Macht in Afghanistan übernommen haben, wurden Menschen aus Deutschland und Österreich dorthin abgeschoben.
Rahim Ahmadi (Name aus Sicherheitsgründen geändert) versucht weiterhin, aus Afghanistan wegzukommen: „Mal schauen, was passiert“, sagt er. Im vergangenen Februar wurde Ahmadi von den deutschen Behörden nach Kabul abgeschoben. In den Monaten zuvor wollte man ihm kein Asyl gewähren. Hinzu kam, dass er vor seiner eigenen Abschiebung geflüchtet und untergetaucht ist. „Das war mein einziges Vergehen“, so Ahmadi.
Seit seiner Abschiebung hat der Geflüchtete nicht nur zahlreiche Anschläge sowie die horrende Kriminalität in der afghanischen Hauptstadt erlebt, sondern auch den Abzug der NATO-Truppen sowie die Rückkehr der radikal-islamistischen Taliban Mitte August.
Zu den Tausenden von Afghanen, die währenddessen versucht haben, evakuiert zu werden und so das Land zu verlassen, gehörte auch Ahmadi. Jeden Tag zog er mit seinem Rucksack zum Flughafen mit der Hoffnung, von irgendjemandem mitgenommen zu werden. „Viele Menschen dachten, dass man sie retten würde. Es gab auch viele falsche Gerüchte in den sozialen Medien“, meint er.
Um den Kabuler Flughafen zu erreichen, musste man nicht nur die Checkpoints der Taliban passieren, sondern auch jene von afghanischen CIA-Milizen und NATO-Soldaten. Auch das berüchtigte Söldnerunternehmen Academi, meist unter dem Namen Blackwater bekannt, war präsent. Berichten zufolge verlangten die Söldner 6.500 US-Dollar pro Kopf für Evakuierungen.
Ähnlich sollen sich auch afghanische Milizen verhalten haben, die im Anschluss vom US-Militär und der CIA ebenfalls evakuiert wurden. In den vergangenen Jahren machten sie meist mit Menschenrechtsverbrechen auf sich aufmerksam, etwa in Form von brutalen Razzien oder Bombardements gegen Zivilist*innen.
Von Innsbruck nach Kabul. „Die sind alle weg, doch um uns kümmert sich niemand“, meint Jahanzeb Naseri. Er wurde im vergangenen Juni von Österreich abgeschoben – nach fast zehn Jahren in Innsbruck. Zuletzt hat Naseri bei einer bekannten Fastfood-Kette gearbeitet. Asyl wurde ihm nicht gewährt.
Er engagierte einen Rechtsanwalt, der seinen Fall übernehmen wollte, doch dann machten die Behörden Naseri einen Strich durch die Rechnung. Am Ende saß er in einem Abschiebeflieger, der ihn Wien startete und weitere Geflüchtete aus anderen EU-Ländern einsammelte, bevor er nach Afghanistan flog.
In Kabul drückten die österreichischen Beamten Naseri seine afghanische Geburtsurkunde in die Hand, ein abgelaufenes, handgeschriebenes Dokument, das als eine Art Einreisedokument fungieren soll, ausgestellt von der afghanischen Botschaft in Wien. Das afghanische Flughafenpersonal lachte anfangs über das Blatt Papier, doch sie ließen Naseri dennoch passieren. „Was dort abgelaufen ist, war absolut rechtswidrig. Solche Dokumente stellen wir gar nicht aus“, erklärt ein Mitarbeiter des afghanischen Konsulats in München, nachdem ihm der Fall vorgelegt wurde.
Und: „Auch Abschiebekandidaten müssen persönlich erscheinen, damit wir ihre Identität bestätigen können.“ Naseri selbst hatte bis zum Zeitpunkt seiner Abschiebung die für ihn zuständige Botschaft in Wien kein einziges Mal aufgesucht. Ein Mitarbeiter der afghanischen Botschaft in Wien reagierte gegenüber dem Südwind-Magazin aggressiv und wollte über den Fall keine Auskunft geben (Anm.: der Anruf fand im Juni statt).
Erneute Flucht. An jenem Tag, als die Taliban die afghanische Hauptstadt einnahmen, lag nahe Naseris Elternhaus im Kabuler Bezirk Shakardara ein toter Soldat, der Opfer der Gefechte wurde. Der Bezirk galt auch zum damaligen Zeitpunkt seit Jahren als unruhig.
Für Naseri ist klar, dass er in Afghanistan keine Zukunft hat. „Die Situation war bereits zuvor extrem gefährlich. Nun sind die Taliban wieder an der Macht und Anschläge finden weiterhin statt. Hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Situation katastrophal ist“, sagt Naseri. Wie viele andere Afghan*innen versucht er nun, das Land zu verlassen.
Zahlreiche Beobachter sprechen bereits von einem massiven Braindrain, also einer Abwanderung vieler kluger Köpfe, seit der Machtübernahme der Taliban. Die neuen Herrscher in Kabul wollen nicht nur ihre extremistischen Vorstellungen landesweit durchsetzen, sondern stehen gegenwärtig vor einer ökonomischen und humanitären Krise, an der Millionen von Afghan*innen bereits leiden.
Chaos an Grenzen. In den vergangenen Wochen haben die Fluchtbewegungen in die Nachbarländer bereits massiv zugenommen. Die Preise für Visa oder Reisetickets haben sich mittlerweile vervielfacht, während an den Landesgrenzen, etwa jener zur Pakistan, Chaos herrscht.
„Auch ich werde wohl nach Pakistan gehen. Von dort aus wird mir vielleicht eine Rückreise nach Deutschland ermöglicht“, meint Rahim Ahmadi, der gegenwärtig auf sein pakistanisches Visum wartet. Evakuierungen sind ohnehin nur noch über den Landweg möglich, weshalb auch Ahmadi eine anstrengende Reise bevorsteht.
Dass niemand in Europa über die Zukunft abgeschobener Afghan*innen spricht, schockiert ihn: „Die EU hat mit der vorherigen Regierung einen Deal abgeschlossen, um unsere Abschiebungen zu ermöglichen. Afghaninnen und Afghanen wurden kollektiv als problematisch abgestempelt und kriminalisiert. So wurden unsere brutalen Rückführungen auch vor der Gesellschaft gerechtfertigt“, meint Ahmadi.
Im Zuge der Abschiebung wurde er Opfer von Polizeigewalt: „Wir wurden wie Schwerverbrecher behandelt“, betont er.
Diplomatischer Druck. Noch kurz vor der Machtübernahme der Taliban fanden Abschiebungen nach Afghanistan weiterhin statt – und zwar unter immensem Druck auf die afghanischen Behörden.
Eine Person, die bis vor kurzem noch im afghanischen Ministerium tätig war, das für abgeschobene Flüchtlinge verantwortlich zeichnete, bestätigte etwa, dass sich der deutsche Botschafter persönlich für die Fortführung der Abschiebungen ausgesprochen habe. Als Grund nannte der Botschafter die anstehenden Bundestagswahlen im September.
Zeitgleich soll der österreichische Botschafter in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad mit der Schließung der afghanischen Botschaft in Wien gedroht haben, falls Kabul keine Abgeschobenen mehr aufnehme. Österreich gehörte zu jenen Staaten, die bis zuletzt vehement abschoben.
Dass diese seit der Rückkehr der Taliban ausgesetzt wurden, hat gewiss nicht nur mit dem guten Willen europäischer Politiker*innen zu tun, sondern auch mit der chaotischen und unübersichtlichen Lage. Der Kabuler Flughafen ist für internationale Flüge weiterhin außer Betrieb. Bis dieser wieder in Gang gebracht wird, hat man sich in Wien, Berlin und anderswo womöglich schon mit den neuen Machthabern arrangiert und unterzeichnet neue Abkommen, die afghanischen Geflüchteten das Leben schwer machen.
Emran Feroz ist österreichischer Journalist und Autor mit afghanischen Wurzeln. Auf Seite 47 in der Printausgabe lesen oder hier Sie eine Empfehlung für sein neues Buch „Der längste Krieg“.
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